Im Laufe der Jahrhunderte und bis in die heutige Zeit verbinden wir das Betrunken sein mit einer undeutlichen Sprache, der Unfähigkeit, in einer geraden Linie zu gehen und der Unfähigkeit, klar zu denken oder zu sprechen. Solche Verhaltensweisen nennen wir betrunken sein. Wenn sich der Betrunkene erbricht oder handlungsunfähig wird, dann ordnen wir es als Alkoholvergiftung ein. Aber können wir wissen, was passiert, wenn sich eine große Menge Alkohol in unserem Blutkreislauf befindet? Nein, wir wissen es nicht und haben es auch nie gewusst.
Wir haben einfach vermutet, dass der Alkohol selbst das Gehirn beeinflusst, um diese Erfahrungen zu verursachen, weil die medizinische Forschung und die Wissenschaft davon ausgehen, dass mehr Alkohol im Blutkreislauf direkt zu diesen Handlungen und Symptomen führt. In Wahrheit weiß niemand genau, was der Alkohol im Gehirn bewirkt. Der Alkoholrausch wird nicht vollständig verstanden, er ist nur ein Teil davon, was im Gehirn passiert, wenn jemand trinkt.
Am Anfang zeigt sich die Wirkung des Alkohols darin, dass jemand ein bisschen “beschwipst” ist. Man hört auch die Meinung, dass Alkohol manchen Menschen hilft, ein bisschen lockerer zu werden und sich zu trauen, ihre Meinung zu sagen. Oder er hilft ihnen, sich zu entspannen. Wieder andere sagen, ein Glas Wein würde ihnen helfen, sich zu betäuben. Wie genau wirkt Alkohol, um Menschen zu entspannen, zu betäuben und zu lockern?
Gehirnscharade
Dein Gehirn lebt von Glukose. Falls dein Gehirn nicht genügend Glukose bekommt, dann kann es im Laufe der Zeit langsam verhungern. Sollte es einmal passieren, dass Glukose ganz aus deinem Blutkreislauf ausgeschieden wird und daher nie dein Gehirn erreicht, dann kannst du sekundenschnell einen Hirnausfall erleiden. Alkohol ist ein ultimativer Trick für dein Gehirn, weil dein Gehirn irrtümlich glaubt, Alkohol sei Zucker, solch ein Zucker, den es verwerten kann. Dein Gehirn glaubt, Alkohol sei wie Glukose, die aus kohlenhydrat- und zuckerhaltigen Lebensmitteln entsteht, die du isst.
Das ist falsch, weil Alkohol in Wirklichkeit ein Methylzucker ist. Er ist eine Mischung aus dem, was ehemals Zucker war – eher ein verdampfter Zucker als ein verwertbarer Zucker. Die ursprüngliche Essenz des Alkohols ist zwar Zucker, aber er ist es nicht.
Dadurch, dass der Alkohol infolge dieser Scharade, die dem Gehirn vorgespielt wird und es dazu bringt, Alkohol als dringend benötigte Glukose zu betrachten, laufen mehrere Dinge schief. Für dein Gehirn ist es umso schwieriger, jede echte Glukosequelle in deinem Blutkreislauf zu verwerten, je mehr Alkohol in deinem Blutkreislauf ist. Und der Alkohol überdeckt die Glukosespeicher des Gehirns.
Alkohol und die Leber
Dein wichtigster Glukosespeicher ist deine Leber. Entsprechend dem Bedarf des Gehirns hat sie die Aufgabe, die Glukose freizusetzen. Wenn wir mit der Nahrung keinen Zucker oder keine Glukose oder Fruktose oder irgendeine Art von Kohlenhydraten zu uns nehmen, kommt es zu einem Glukosedefizit im Blutkreislauf. Jetzt ist es die Aufgabe der Leber, Glukose freizusetzen, um das Gehirn vor dem Verhungern zu retten. Dasselbe findet statt, wenn du über einen längeren Zeitraum nicht isst, weil das Gehirn ohne Glukose nicht überleben kann. Wenn jemand eine Wasserfastenkur macht, überlebt er aufgrund der Funktion seiner Leber – weil die Leber genügend Glukose für das Gehirn freisetzt. Es hängt von den Glukosereserven in der Leber ab, wie lange jemand ein Wasserfasten überstehen kann.
Nicht bei jedem Menschen funktioniert die Leber noch so gut, um diesen Mechanismus in Gang zu setzen. Aufgrund einer trägen oder stagnierenden Leber können die Glukosespeicher minimal sein. Diese Menschen werden stärker vom Alkoholkonsum beeinträchtigt als Menschen mit einer starken Leber. Deshalb sagen manche: “Ich vertrage keinen Alkohol” oder “Er verträgt keinen Alkohol”. Weil ihre Leber geschwächt ist, besonders wenn sie älter werden.
Bei ausreichendem Alkoholkonsum sind die Auswirkungen die gleichen, ganz unabhängig von der Alkoholtoleranz eines Menschen. Die Leber wird vergiftet und betäubt, sobald man Alkohol trinkt und es ist die Aufgabe der Leber, zu verhindern, dass der Alkohol ins Gehirn gelangt. Sobald du die Wirkungen des Alkohols spürst – mögen sie auch noch so mild sein – hat deine Leber bereits ihre Sättigungsgrenze zum Schutz des Gehirns erreicht. Wir übersehen diesen entscheidenden Punkt, wenn wir bei Alkohol von “Mäßigung” sprechen. Die Aufgabe der Leber ist es, auch den letzten Tropfen Alkohol aufzusaugen, da er in jeder Menge giftig ist. Die Leber kann keine Glukose mehr freisetzen, wenn sie durch Alkohol vergiftet wird. Auch wenn jemand einen großen Vorrat an Glukose hat, kann sie diese Glukose nicht freisetzen und wird in ihrer lebenswichtigen Funktion gelähmt. Nun ist es für die Leber Priorität geworden, den Alkohol aufzusaugen.
Im selben Moment verdrängt der Alkohol die Glukose im Blutkreislauf und täuscht das Gehirn, weil er ihm vorgaukelt, dass er der beste Brennstoff sei, was er letztlich nicht ist. Er ist nur ein Nebenprodukt von Glukose, von Zucker. Er ist nur der Geist von dem, was Zucker war. Das Gehirn fällt dieser Geisterwirkung von Alkohol zum Opfer. Je mehr Alkohol ins Gehirn gelangt, desto betrunkener (d. h. berauschter) verhält sich eine Person. Das Gehirn fängt bereits an zu verhungern, wenn jemand so stark betrunken ist, dass er nicht mehr normal funktionieren kann, z.B. nur noch lallt und nicht mehr gerade gehen kann.
Das Rauschelement
Der Trickzuckereffekt ist nicht die einzige Wirkung von Alkohol auf unser Gehirn. Da Alkohol ein Gift ist, hat er als Gift eine Wirkung, die berauschend und lähmend sein kann. Die undeutliche Sprache nach dem dritten Schluck ist jedoch dadurch bedingt, dass dem Gehirn die Glukose ausgeht und es deshalb seine Funktionsfähigkeit verliert.
Sollte jemand einen so extremen Rausch haben, dass er zusammenbricht, ohnmächtig wird und einschläft, dann ist dies wie russisches Roulette. Es kann nämlich sein, dass die Person im Schlaf stirbt, weil das Gehirn aufgrund der Heftigkeit des Rausches tatsächlich verhungert. Außerdem ist es möglich, dass sie aufgrund einer Alkoholvergiftung (ein Aspekt des Rausches, bei dem es nicht um Glukosemangel geht) erbrechen muss. Die Nerven funktionieren nicht mehr optimal, da das Gehirn aufgrund des Glukosemangels abstirbt. Das kann dazu führen, dass jemand, der sich im Schlaf erbricht, leichter ersticken und sterben kann, weil durch das nicht mehr funktionsfähige Gehirn die Vagusnerven gelähmt sind.
Eine ausreichende, glukosereiche Mahlzeit, die wenig Fette enthält, ist vor einer durchzechten Nacht sehr wichtig, damit genügend Glukosespeicher frisch zur Verfügung stehen. Derjenige, der auf leeren Magen trinkt, weil er noch nichts gegessen hat, wird schneller beschwipst sein und die ersten Auswirkungen des frühen Trinkens zeigen. Bisher glaubten wir, dass dieser Rausch und diese Beschwipstheit, auf ein durch Alkohol berauschtes Gehirn zurückzuführen sei. In Wirklichkeit ist ein Alkoholrausch dadurch bedingt, dass dem Gehirn die Glukose ausgeht. Da die Leber anfängt, den Alkohol aufzusaugen, kann sie keine Glukose mehr freisetzten, und es ist auch keine frische Glukose im Blutkreislauf, wenn jemand nichts gegessen hat. Das Einsetzen der Wirkung von Alkohol dauert bei demjenigen länger, der an diesem Tag etwas gegessen hat, weil er dann wenigstens frische Glukose für sein Gehirn hat.
Die Symptome von Trunkenheit wären begrenzt, wenn es sich nur um eine Alkoholvergiftung handeln würde: Jemandem wäre übel, er würde sich übergeben, ihm wäre schwindelig, und obwohl ihm sehr übel ist, wäre er noch bei klarem Verstand. Der Verlust der motorischen Fähigkeiten ist der gleichzeitigen Aushungerung des Gehirns geschuldet. Auch undeutliche Sprache und anderen Schwierigkeiten beim Sprechen, dass man nicht versteht, was jemand sagt, dass man Dinge sagt, von denen man nicht weiß, dass man sie sagt, haben alle dieselbe Ursache: ein verhungerndes Gehirn. Da das Gehirn nur noch sehr wenig Glukose bekommt und am Rande des Überlebens steht, beginnen bestimmte Teile des Gehirns abzuschalten.
Fehlgeleitete Kater-Heilmittel
Genau wie die Trunkenheit selbst, ist ein Kater zum Teil auf den Mangel an Glukose und zum Teil auf den Rausch des Alkohols zurückzuführen. Der schlechteste Rat für den Kater danach ist es, am nächsten Tag wieder zu trinken. Es funktioniert nicht. Es kann nicht gegen einen Kater helfen, weil dem Gehirn wieder einmal die Glukose entzogen wird. Das Gehirn verlangt dringend nach Glukose und daher neigen Menschen am Tag nach dem Alkoholkonsum zum Essen. Eventuell ist das Gehirn nur knapp dem Hungertod durch Glukosemangel entgangen, sodass das Organ verzweifelt dem ganzen Körper signalisiert, dass es sofort ganz dringend große Mengen an Glukose braucht. Da manchen Menschen nach dem Alkohol immer noch sehr übel sein kann, haben sie deswegen nicht den Wunsch Nahrung aufzunehmen. Diese Übelkeit bei einem Kater kommt durch die Vergiftung durch den Alkohol.
Nicht alle Menschen trinken bis zum Brechreiz und Erbrechen. Um wieder nüchtern zu werden, versuchen sie immerhin noch, Nahrung zu sich zu nehmen. Während einer durchzechten Nacht suchen sie um zwei oder fünf Uhr morgens ein Imbiss oder ein Drive-in auf und bestellen einen ganzen Stapel Pfannkuchen mit Ahornsirup, Toast, Eier, Speck, Waffeln, Rösti, Burger, Pommes, Tacos oder Burritos. Oder sie greifen am nächsten Tag zu reichlich Essen. Das wird als den-Alkohol-aufsaugen bezeichnet. Es kann auch passieren, dass auf einer Party oder an einer Bar jemand aktiv trinkt und eine Begleitperson sagt: “Du musst etwas essen, um den Alkohol aufzusaugen.” Es geht allerdings beim Essen nach dem Alkoholkonsum eigentlich darum, das Gehirn mit Glukose zu versorgen, damit es aus seiner Hungersnot herauskommt und wieder funktionieren kann. Das weiß aber niemand.
Wir bekommen trotzdem nicht das, war unser Gehirn eigentlich benötigt, weil wir nicht verstehen, was im Gehirn und im Körper vor sich geht und weil wir Fett zuführen. Bedauerlicherweise essen wir eine Kombination aus Kohlenhydraten und Fett, wobei das Fett die Glukose der Kohlenhydrate daran hindert, ins Gehirn zu gelangen. Wenn man zum Beispiel Bratkartoffeln in Öl, Butter und Fett frittiert, kann die Glukose der Kartoffel nicht so leicht ins Gehirn gelangen. Es kommt jetzt zu einer Insulinresistenz, und unser Körper kämpft darum, den Zucker und das Fett aufzuspalten, damit der Zucker an die dringend benötigten Stellen im Gehirn und in anderen Teilen des Körpers gelangen kann.
Kaum jemand versucht, sich von einem Vollrausch zu erholen, indem er Obst wie Bananen oder Papayas oder Mineralsalze aus Quellen wie Spinat, anderem Blattgemüse oder Selleriesaft zu sich nimmt. Stattdessen wählen wir einen Teller mit Eiern, die fett sind. Oder wir entscheiden uns für Toast mit Avocado oder Haferflocken mit Nussbutter. In Avocado und Nussbutter sind Fette, die der Glukose aus den Kohlenhydraten des Toasts oder der Haferflocken das Eindringen in die Zellen sehr schwer macht. Auch Pizza (ebenfalls Zucker plus Fett), die oft das beliebteste Essen nach einer durchzechten Nacht oder sogar einem durchzechten Tag ist, wäre in solch einem Fall nicht das richtige.
Alkohol und Adrenalin
Was ist der Grund, warum das Aushungern des Gehirns nach Glukose süchtig macht? Anders gefragt, warum macht Alkohol süchtig? Jedes Mal, wenn das Gehirn seine Brennstoffquelle verliert, gibt es einen plötzlichen Adrenalinschub, um am Leben zu bleiben. Je mehr Alkohol das Gehirn bekommt und je mehr es dadurch an echter Glukose mangelt, desto mehr Adrenalin (Epinephrin) wird ausgestoßen. Das wirkt sich bei jedem Menschen anders aus. Das Adrenalin beeinflusst, ob jemand als Betrunkener wütend wird oder ob er sich weinend oder schreiend auf den Boden setzt.
Adrenalinstoß des Überlebens
Wenn wir sagen, dass Alkohol für jemanden spricht, erleben wir in Wirklichkeit, wie Adrenalin von einem verhungernden Gehirn verwendet wird. Unsere Nebennieren senden jedes Mal, wenn wir auf irgendeiner Ebene in Gefahr sind, eine Adrenalinmischung aus. Das passiert in der Hoffnung, die Chemie unseres Blutkreislaufs zu verändern, um auf irgendeine Weise zu helfen. Wenn unser Gehirn keinen Treibstoff mehr hat, wird Adrenalin zum Ersatztreibstoff. Denke auch daran, dass Adrenalin an sich schon eine Sucht ist. Es wird umso mehr Adrenalin ausgeschüttet, je betrunkener wir werden und je mehr unserem Gehirn der Treibstoff ausgeht.
Es hängt oft von den Erfahrungen ab, die wir Menschen im Leben gemacht haben, wie diese Adrenalinausschüttung wirkt. Wenn Adrenalin ausgeschüttet wird, empfindet jeder von uns unterschiedliche Emotionen. Wenn jemand trinkt, kommen oft Lebenserfahrungen und Wunden zum Vorschein. Daher hat jeder Mensch ein anderes emotionales Erlebnis, wenn er trinkt. Es kommt ganz darauf an, wie jemand auf den Adrenalinschub reagiert. Bei dem einen wirkt Alkohol entspannend, beim anderen verursacht er Migräne, manche sagen, er mache sie traurig und depressiv, manche sagen, er mache sie glücklich, wieder andere sagen, er gebe ihnen Kraft, Energie und Mut. Manche Menschen sind aufgeregt und schreien bei der ersten Runde Bier. Da macht es keinen Unterschied, ob sie bei einem Sportereignis jubeln oder einfach den Moment des Feierabends begießen.
Das Gefühl, das sich einstellt, wenn man sich den ersten Drink einverleibt, ist ein Adrenalinstoß, der das Überleben angesichts des Mangels an Glukose im Gehirn ermöglicht. Wenn wir das verstehen würden, würden wir statt “Prost!” rufen: “Mein Gehirn ist kurz davor zu verhungern! Meine Nebennieren werden eine riesige Menge an Adrenalin ausstoßen, um mein Gehirn zu retten. Gleichzeitig werde ich die Giftwirkung des Alkohols durch die Vergiftung des Gehirns fühlen! Alles zusammen wird mir eine tolle Nacht bescheren!“
Nur, dass es sich dann doch nicht so toll anfühlen würde!
Quelle: Anthony William, Heile dein Gehirn